Der Rechtsanspruch auf ganztägige Bildung, Betreuung und Erziehung von Kindern im Grundschulalter wurde vom Gesetzgeber im Achten Sozialgesetzbuch verankert und soll stufenweise ab dem Jahr 2026 eingeführt werden. Dies ist ein wichtiges bildungs-, familien- und sozialpolitisches Vorhaben von Bund und Ländern, welches nach der Einführung des Rechtsanspruchs auf einen Platz in Tageseinrichtungen und in der Kindertagespflege für Kinder unter drei Jahren einen folgerichtigen Schritt darstellt.
In den letzten Jahren haben die Länder große Fortschritte beim Ausbau von Betreuungs- und Ganztagsplätzen erzielt, jedoch übersteigt die Nachfrage das Angebot weiterhin deutlich. Zudem bestehen bundesweit große quantitative und qualitative Unterschiede zwischen den Ganztagsangeboten. Eine qualitativ hochwertige Umsetzung des Ganztagsförderungsgesetzes (GaFöG) kann dazu beitragen, diese Unterschiede auszugleichen und zu mehr Chancengleichheit und Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse im Bundesgebiet führen.
Der Dreiklang von Bildung, Betreuung und Erziehung, der für die frühkindliche Bildung gilt, muss sich in der Ganztagsförderung von Kindern im Grundschulalter fortsetzen. Dies gilt unabhängig davon, ob der Ganztag im System der Schule bzw. auf dem Schulgelände angeboten wird oder in anderen Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe. Dieser Anspruch muss für alle Träger gleichermaßen gelten. Zu berücksichtigen ist, dass bestehende und neu zu schaffende Ganztagsangebote je nach Tradition und Organisation in den Ländern unterschiedlich vorgehalten werden; sei es im Rahmen von gebundenen oder offenen Ganztagsschulen, Horten oder als Nachmittagsangebote der Kinder- und Jugendhilfe. Je nach Art der Angebote müssen weitere Qualitätsbereiche beschrieben werden, wozu beispielsweise Raumausstattung, Zeitrahmen, Kooperationsqualität und Verpflegung zählen.
Nur eine qualitativ hochwertige Umsetzung des Rechtsanspruchs kann ein attraktives Angebot für Kinder und ihre Familien gewährleisten und dazu einladen, dies auch in Anspruch zu nehmen. Daher muss die Bundesregierung ihrem Vorhaben im Koalitionsvertrag Folge leisten und beim Ausbau von ganztägigen Angeboten zur Förderung und Betreuung von Grundschulkindern einen besonderen Fokus auf die Qualität legen. Im Interesse der Kinder und Familien müssen Bund, Länder und Kommunen unter Einbeziehung der relevanten Akteur:innen einen gemeinsamen Qualitätsrahmen für den Ganztag entwickeln und diesen mit verbindlichen Qualitätsstandards absichern.
Wir fordern von Bund, Ländern und Kommunen den kontinuierlichen Dialog mit der Praxis und die Einbeziehung der Expertise der Fach-, Wohlfahrts- und Interessensverbände bei der Entwicklung eines wirkungsvollen Qualitätsrahmens. Dieser muss die Systeme Schule und Kinder- und Jugendhilfe gleichermaßen und kooperierend adressieren sowie Aussagen zum Bildungsverständnis, zu Fachkräften, zum ordnungsrechtlichen Rahmen und zur Ausgestaltung treffen. Dafür geben die unterzeichnenden Verbände Empfehlungen, die jedoch keinen Anspruch auf Vollständigkeit erheben. Die Positionen der unterzeichnenden Verbände können themenspezifisch variieren und über die hier dargestellten Empfehlungen hinausgehen. Diese Positionen lassen sich den jeweiligen Veröffentlichungen entnehmen. Es besteht jedoch grundsätzliche Einigkeit über die Relevanz der nachfolgenden zentralen Qualitätsanforderungen an das Ganztagsangebot:
Gemeinsames Bildungsverständnis von Schule und Kinder- und Jugendhilfe für den Ganztag:
Gute ganztägige Bildung, Betreuung und Erziehung stellt die Bedürfnisse der Kinder in den Mittelpunkt und fördert die Aneignung weitreichender Handlungskompetenzen, welche die Kinder zur aktiven und nachhaltigen Gestaltung ihrer Welt befähigen. Gemäß § 22 SGB VIII hat jeder junge Mensch das Recht auf Förderung seiner Entwicklung und Erziehung zu einer selbstbestimmten, eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit. Der daraus resultierende sozialpädagogische Auftrag richtet sich an alle Angebote im Rahmen der ganztägigen Bildung, Betreuung und Erziehung von Grundschulkindern.
Kinder im Grundschulalter durchlaufen vielfältige persönliche Entwicklungsphasen. Diese müssen als Bildungs- und Entwicklungsaufgaben verstanden und von den Fachkräften in den Institutionen aufgegriffen und begleitet werden. Ein qualitativ hochwertiges Ganztagsangebot muss die Rechte der Kinder nach Wohlergehen, Schutz und Bildung sicherstellen. Ein kooperatives Miteinander von Schule und Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe im Sinne eines gemeinsamen Bildungsverständnisses ist eine wesentliche Voraussetzung für die Ausgestaltung qualitativ hochwertiger Angebote. Die Orte der formalen, der non-formalen und informellen Bildung müssen gleichgestellt und im Sinne der jungen Menschen ausgestaltet werden.
Positive pädagogische Beziehungen mit dem im Ganztag tätigen Personal sowie positive Beziehungen mit der Peer-Group sind weitere Qualitätsmerkmale, die ein qualitativ hochwertiger Ganztag bieten sollte. Darüber hinaus müssen junge Menschen ihre eigenen relevanten Themen und Entwicklungsaufgaben lebensweltorientiert und produktiv bearbeiten können und partizipativ an Entscheidungen beteiligt werden.
Bildung und Entwicklung finden nicht nur am Ort Schule statt, sondern auch in der Lebenswelt und im Sozialraum von Kindern und Familien. Daher sind die Umgebung der Institution (z.B. Stadtteil, Dorf, Natur), aber auch Angebote anderer Institutionen (z.B. Sportvereine, Kultureinrichtungen, Jugendverbände und -einrichtungen) sowie virtuelle Räume konzeptionell und strukturell einzubeziehen und als Aneignungs- und Erfahrungsräume den Kindern zur Verfügung zu stellen. Je nach Entwicklung und Alter müssen diese eigenständig nutzbar sein.
Qualifizierte Fachkräfte im Ganztag:
Basis für einen qualitativ hochwertigen Ganztag sind die Personen, die ihn tagtäglich vor Ort professionell realisieren. Daher ist es notwendig, einen bundesweiten Rahmen für den Personaleinsatz zu schaffen. Nur so können sich für Grundschulkinder real die Bildungs- und Teilhabechancen – wie mit dem GaFöG beabsichtigt – im gesamten Bundesgebiet verbessern. Sozialpädagogische Fachkräfte, Lehrkräfte, Koordinierungs- und Leitungskräfte sowie Fachkräfte anderer Professionen, die je nach Konzept eingebunden werden, sollten nach einem festzulegenden, wissenschaftlich fundierten, kindgerechten Schlüssel im Ganztag eingesetzt werden. Mit ihren jeweils eigenständigen Aufträgen zur professionellen Begleitung der Entwicklungs- und Bildungsprozesse von jungen Menschen ist die Ergänzung der pädagogischen Arbeit durch beispielsweise Schulsozialarbeiter:innen, Sonderpädagog:innen oder sozialpädagogische Assistenzkräfte je nach individuellem Bedarf konzeptionell vorzusehen. Den bisher im Ganztag pädagogisch eingesetzten un- oder angelernten Kräften müssen Qualifizierungsangebote auf einem bundesweit vergleichbaren Standard gemacht werden.* Fort- und Weiterbildungsangebote müssen so ausgerichtet sein, dass sie für alle im Ganztag tätigen Personen offen sind, Begegnung ermöglichen und zur Entwicklung eines gemeinsamen Bildungsverständnisses beitragen. Pädagogische Fachkräfte sind durch den Einsatz entsprechenden Personals von nicht-pädagogischen Aufgaben zu entlasten.** Hierfür sind notwendige Ressourcen mit einzuplanen.
Ordnungsrechtlicher Rahmen:
Der Bundesgesetzgeber hat bislang darauf verzichtet, in eindeutiger Weise Qualitätskriterien für die ganztägige Bildung, Betreuung und Erziehung zu formulieren. Die Verankerung des Rechtsanspruchs im SGB VIII bedeutet aber, dass dessen Grundprinzipien, etwa zur Förderung, zum Schutz und zur Beteiligung von Kindern bei der Umsetzung des Rechtsanspruchs zu beachten sind. Eine verbindliche Rahmung ist auch dadurch gegeben, dass im SGB VIII Vorgaben für die Schließ- und Öffnungszeiten sowie für die fachliche Eignung des Personals gemacht wurden – ein weiterer wichtiger Schritt hin zu gleichwertigen Lebensverhältnissen in Deutschland.
Gleichwertige Verhältnisse müssen auch mit Blick auf die Prozess- und Strukturqualität der Ganztagsangebote angestrebt werden. Hierfür ist eine für den Jugendhilfe- und Bildungsbereich gleichermaßen verbindliche Rahmung notwendig, welche eine nachhaltige und qualitative Kooperation aller Professionen und Akteur:innen ermöglicht. Eine solche Rahmung kann nur gemeinsam von den Kultus- und Jugendministerien entwickelt und verantwortet werden. Sie sollte Ziele und Erwartungen an den Ganztag klären, als Empfehlungsrahmen handlungsleitend für alle Länder sein und zugleich unterschiedliche Formen der Umsetzung vor Ort ermöglichen. Die Rahmung sollte zu einem gemeinsamen Qualitätsverständnis in wichtigen Kernbereichen des Ganztagsangebots mit einer Verankerung in den Landesschulgesetzen führen. Dafür empfehlen wir Aussagen zu folgenden Kernbereichen:
- Kooperation auf allen Ebenen des Systems:
- Die Schulentwicklungs- sowie Kinder- und Jugendhilfe-Planung sollten gemeinsam bzw. in integrierter und eng abgestimmter Weise erfolgen. Der Aufbau von Kooperationsstrukturen zwischen Schule und Jugendhilfe ist dabei obligatorisch.
- Für die sozialräumliche Arbeit und die Arbeit mit Kooperationspartner:innen (Musikschulen, Vereine etc.) sind die Verantwortung für die Aufsicht und Versicherungsfragen zu klären.
- Für die Partizipation von Kindern und Eltern sind entsprechende Strukturen zu entwickeln.
- Konzeptions- und Qualitätsentwicklung:
- Die Profil- und Konzeptionsentwicklung muss partizipativ und inklusiv mit allen Akteur:innen erfolgen. Ein Kinderschutzkonzept ist dem zuständigen Amt regelmäßig vorzulegen.
- Qualitätsentwicklung, -sicherung und -evaluation sind regelmäßig vorzusehen. Diese sollten sowohl intern als auch extern begleitet und durchgeführt werden.
- Personal:
- Bedarfsgerechte Personalschlüssel/Fachkraft-Kind-Relationen sind nach Maßgabe aktueller wissenschaftlicher Erkenntnisse einzuhalten.
- Auskömmliche Arbeitsverhältnisse, bedarfsgerechte Arbeitszeitmodelle und Bezahlung nach Tarif (TvöD/TV-L) müssen für alle Beschäftigten gewährleistet sein.
- Die Konzeption gemeinsamer Angebote zur Fort- und Weiterbildung für alle im Ganztag tätigen Berufsgruppen muss durch schul-, sozial- und fachpädagogische Bundes- und Landesinstitute erfolgen und zu einer gemeinsamen Professionalisierung beitragen.
- Die Ausbildung und Qualifizierung pädagogischer Fachkräfte muss sich an Rahmenvereinbarungen und Qualifikationsrahmen halten und sind in einem kooperativen Prozess weiterzuentwickeln.
- Die Kooperation der Fachkräfte in den (multiprofessionellen) Teams muss durch ausreichend Zeiten für Absprachen etc. und die mittelbare pädagogische Arbeit sichergestellt sein.
- Den Leitungskräften/Leitungsteams müssen in ausreichendem Maß Zeitressourcen zugestanden werden, um Konzepte zur Schulentwicklung mit den Teams und allen Beteiligten zu erarbeiten.
- Räume und Verpflegung:
- Pädagogisch sinnvolle, inklusive und kindorientierte Räume und Ausstattung sind sicherzustellen.
- Die Raumkonzepte sind im unmittelbaren Umfeld der Schule zu realisieren. Sollte dies nicht möglich sein, ist stets die sichere Mobilität der Schüler:innen zu gewährleisten.
- Eine gesunde, bedarfsgerechte und kostenfreie Mittagsverpflegung ist sicherzustellen.
Die unterzeichnenden Verbände und Organisationen unterstreichen die hohe Relevanz dieser Empfehlungen. Zielsetzung muss sein, diese bereits mit der Einführung des Rechtsanspruches zu erfüllen, denn die Nutzung der Potenziale für die Teilhabe und die Persönlichkeitsbildung der jungen Menschen sowie der gesamtgesellschaftliche Mehrwert dieses bildungs-, familien- und sozialpolitischen Vorhabens können nur durch qualitativ hochwertige Ganztagsangebote sichergestellt werden. Die Unterzeichnenden signalisieren ihre Bereitschaft, ihre Expertise, ihr Praxiswissen und ihre langjährige Erfahrung dafür einzubringen.
Alphabetische Auflistung der Unterzeichnenden
Arbeiter-Samariter-Bund Deutschland e.V. (ASB)
Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe – AGJ
AWO Bundesverband e.V.
BöfAE e.V. | Bundesarbeitsgemeinschaft der öffentlichen und freien, nicht konfessionell gebundenen Ausbildungsstätten e.V.
Bund der Jugendfarmen und Aktivspielplätze e.V.
Bundesarbeitsgemeinschaft Elterninitiativen (BAGE) e.V.
Bundesarbeitsgemeinschaft für Bildung und Erziehung in der Kindheit (BAG-BEK e.V.)
Bundesarbeitsgemeinschaft Offene Kinder- und Jugendeinrichtungen e.V. (BAG OKJE e.V.)
Bundeselternvertretung für Kinder in Kindertageseinrichtungen und Kindertagespflege (BEVKi)
Bundesverband Caritas Kinder- und Jugendhilfe e.V. (BVkE)
Bundesvereinigung Kulturelle Kinder- und Jugendbildung e. V. (BKJ)
dbb beamtenbund und tarifunion (dbb)
Deutsche Kinder- und Jugendstiftung (DKJS)
Deutscher Bundesjugendring e.V.
Deutscher Caritasverband e.V.
Deutscher Familienverband e.V. (DFV)
Deutscher Gewerkschaftsbund (DGB)
Deutscher Kitaverband – Bundesverband freier unabhängiger Träger von Kindertagesstätten e.V.
evangelische arbeitsgemeinschaft familie e.V. (eaf)
Familienbund der Katholiken (FDK)
Ganztagschulverband e.V.
Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW)
Johanniter-Unfall-Hilfe e.V.
komba gewerkschaft
Verband alleinerziehender Mütter und Väter, Bundesverband e.V. (VAMV)
Verband Bildung und Erziehung e. V. (VBE)
Verband binationaler Familien und Partnerschaften, iaf e. V.
Verband deutscher Musikschulen e.V.
Verband Katholischer Tageseinrichtungen für Kinder (KTK-Bundesverband e. V.)
Vereinte Dienstleistungsgewerkschaft (ver.di)
Volkssolidarität Bundesverband e.V.
Zukunftsforum Familie e.V. (ZFF)
*Ein Vorschlag für Standards derartiger Weiterbildungen findet sich zum Beispiel in der Publikation: DJI/WiFF (2022): Ganztag für Grundschulkinder. Grundlagen für die kompetenzorientierte Weiterbildung. WiFF Wegweiser Weiterbildung, Band 16. München.
** Zum Beispiel (Schul-)Verwaltungsangestellte, Hauswirtschaftskräfte, Hausmeister:innen